Renate, Jahrgang 1952

Erfahrungsberichte: Myasthenia gravis

Nach einer stressigen Zeit (Ehescheidung, Arbeitslosigkeit des jüngsten Sohnes usw. usw.) stellte ich an mir einige Ungereimtheiten fest. Zuerst sah ich Doppelbilder. Kurz darauf konnte ich meinen Kopf nicht mehr richtig halten, das rechte Augenlid klappte herunter, der Biss in einen Apfel bedeutete allergrößte Anstrengung, meine Leistungsfähigkeit ließ rapide nach. Ich hätte nur noch schlafen können. Im Bett musste ich allerdings sitzen, weil ich auch keine Luft mehr bekam.

Als ich meinem ältesten Sohn (er ist Arzt) von diesen Symptomen erzählte, schickte er mich mit Verdacht auf einen Schlaganfall sofort zu meiner Hausärztin. Diese stellte einen Blutdruck von 220/120 fest und gab mir zunächst eine Überweisung für eine Augenärztin. Dort wurde ich beruhigt. Wenn ich den Blutdruck erstmal im Griff hätte, würden auch die Doppelbilder verschwinden.

Ein Trugschluss. Weil auch meine Hausärztin nicht mehr wusste, als ich, probierte sie nacheinander verschiedene Blutdrucksenker an mir aus, mit dem Ergebnis, dass die Symptome schlimmer wurden. Als letztes bekam ich sogar Beta-Blocker!

Nach einem erfolglosen Monat schickte sie mich dann im Februar 2005 zu einem Neurologen nach Hannover. Der schloss einen Schlaganfall sofort aus, hatte aber eine Vermutung. Mir wurde Blut abgezapft und nach weiteren zwei Wochen lag das Ergebnis auf dem Tisch. Ich hatte Myasthenia gravis. Diese Krankheit war mir vollkommen unbekannt. Der Neurologe tat dann auch so, als handele es sich um nichts Schlimmes, das man mit Tabletten beheben könne. Er verschrieb mir Mestinon in aufsteigender Dosierung. Jede Woche musste ich bei ihm erscheinen und mir ein neues Rezept holen. Mir ging es jedoch immer schlechter. Meine diesbezüglichen Hinweise interessierten ihn offensichtlich überhaupt nicht. Dann müsse man eben zusätzlich Cortison geben. Welche Ausmasse diese Krankheit annehmen kann, erfuhr ich lediglich aus dem Internet.

Einen Tag nach Pfingsten 2005 war ich zuletzt in Begleitung in seiner Praxis. Ich torkelte nur noch und konnte nicht mehr selbständig gehen. Als ich ihm sagte, ich wolle mich in eine Klinik einweisen lassen, bekam ich zur Antwort: „Das müssen sie mit ihrer Hausärztin regeln. Die schreibt ihnen eine Krankmeldung und einen Einweisungsschein.“ Meinen schlechten Zustand nahm er überhaupt nicht wahr.

Am 23. Mai brachte mich eine Freundin in das Agnes-Karll-Krankenhaus. Nach meiner Aufnahme machte man sofort ein CT von der Schilddrüse. Das war sehr schwierig für mich, denn ich konnte nur sehr kurz flach liegen, weil ich sonst keine Luft bekam.

Meine Erinnerung setzt erst wieder ein, als man mich bereits in die MHH gebracht hatte. Ich wurde beatmet und erhielt einen Luftröhrenschnitt, damit man mir jederzeit Sauerstoff zuführen konnte. Zwei Wochen Intensivstation folgten, die ich nicht noch einmal erleben möchte. Durch die vielen Medikamente verflüssigte sich mein Stuhlgang. Dann bekam ich eine dreimalige Plasma-Pherese. Mein Zustand besserte sich nun langsam aber sicher.

Nachdem man die Bilder meiner Thymusdrüse angefordert hatte, riet man mir zu einer OP. Zuerst lehnte ich ab, doch mein Sohn überzeugte mich schließlich. Im Anschluss an die Intensivstation folgten fünf Wochen Neurologie. Dort wartete ich auf meine OP. In der Zwischenzeit erfolgten noch viele Untersuchungen wie Bronchoskopie, PET und Sternoskopie, um festzustellen, ob mein Körper frei von eventuellen Tumoren ist. Das war glücklicherweise der Fall und so kam ich am 17.07.2005 unter’s Messer.

Frau Dr. Athanassiadi von der MHH leitete die OP. Meine größte Sorge war eigentlich, dass ich danach noch tagelang beatmet werden müsste. Um 12.oo Uhr wurde ich aus meinem Zimmer geholt und zur OP gefahren, um 17.3o Uhr wachte ich in der Intensivstation wieder auf. Gleichzeitig zog man den Beatmungsschlauch und die Magensonde. Ich hatte keinerlei Schmerzen, war vorbildlich gebettet und wurde ebenso vorbildlich versorgt. Zur Nacht bat ich um ein Schmerzmittel, lehnte aber ein Schlafmittel ab. Wenn ich keine Schmerzen habe, kann ich auch schlafen. Überall und immer! 🙂

Am nächsten Morgen verlegte man mich in die Normalstation der Chirurgie. Mein eigenes Leid erschien mir plötzlich winzig klein im Gegensatz zu den anderen Patienten mit Herz-Lungen-Transplantationen und schwierigen Herz-OPs. Das Personal ging auch nicht gerade zimperlich mit den Kranken um, doch damit konnte ich leben.

In Magenhöhe ragten drei daumendicke Drainageschläuche aus meinem Körper, deren Entfernung der reinste Horror für mich war. Ohne jede Betäubung wurden sie herausgezogen und meine Haut sofort mit einem Faden vernäht, der mich an einen Basteldraht erinnerte. Auch die OP-Narbe zwischen meinen Brüsten war nicht gerade ein Meisterstück.

Nach sieben Tagen wurde ich bereits nach Hause entlassen und bereitet mich auf meine Reha vor, die ich vom Krankhaus aus beantragt hatte. Ich verbrachte 4 Wochen in der Reha-Klinik Wilhelmshaven und kann nur Gutes von meinem Aufenthalt dort sagen. Zwar hatte ich nur maximal vier Anwendungen pro Tag, doch kann ich sagen, dass ich mich allein zu Hause nicht so viel bewegt hätte. Vor allem das Schwimmen tat mir sehr gut.

Daheim ging ich dann regelmäßig zu einer ortsansässigen Neurologin, die meine Genesungsfortschrit te überwachte. Nach und nach wurden meine Medikamente abgesetzt. Zuerst das Cortison, dann Mestinon und zum Schluss Imurek. Langsam und mit größter Vorsicht gewöhnte ich mich wieder an den Alltag. Meinen Haushalt versorge ich allein, wenn auch nicht so zügig wie früher. Doch die Symptome sind verschwunden.

Gerade heute war ich noch einmal bei meiner Neurologin, die sich sehr zufrieden äusserte. Die letzte Imurek habe ich vor einem Monat genommen. In der Zwischenzeit ging es mir supergut und es wurde heute nur etwas Blut entnommen, um die Menge der Antikörper festzulegen.

Ich bin wirklich froh, mich zu der OP entschlossen zu haben und möchte allen Menschen mit dieser Krankheit Mut machen. Man kann auch wieder gesund werden und ohne Medikamente auskommen. Ich habe nie daran gezweifelt, denn es ist für mich eine schreckliche Vorstellung, jeden Tag bis zu 20 Tabletten einnehmen zu müssen.

Natürlich habe ich nicht vergessen, dass die Krankheit jederzeit wiederkommen kann. Entsprechend verhalte ich mich auch. Zwar genehmige ich mir zu einem schönen Essen auch mal ein Gläschen Wein oder Bier (nach vorheriger Absprache mit der Neurologin), doch mehr möchte ich gar nicht erst ausprobieren.

Übrigens: So fürchterlich meine Narbe auch aussah, so gut ist sie verheilt. Sie ist nicht besonders schön, weil gerade oben am Dekolletee ein Wulst entstanden ist. Doch was ist ein Wulst gegen meine Gesundheit? Mein Sohn sagte dazu sehr treffend:

„Cosmetisch ist sie absoluter Pfusch, aber chirurgisch einwandtfrei.“

In diesem Sinne herzliche Grüße an alle Myastheniker und Kopf hoch.

Alles wird gut!