Rahel., Jahrgang 1959

Erfahrungsberichte: Myasthenia gravis

Wenn ich eigentlich zurückdenke, fing bei mir die MG schon im Kindesalter an. Schon in der Schule war ich eine schlechte Turnerin. Ich war schnell müde, konnte beim „Stangenklettern“ nur ca. 1 m hoch und hatte anschliessend den „Krampf“ in den Fingern. Auch wurde mir oft gesagt: „Rahel, du hast schon wieder den Mund offen“. Ich weiss noch, meine Grossmutter dachte oft, ich hätte einen Vitaminmangel wegen meiner fehlenden Kraft. So musste ich in meiner Kindheit tägl. Vitamine schlucken.

Nun, mein Berufswunsch war immer Krankenschwester gewesen. Bis zum Lehranfang mit 18 Jahren überbrückte ich die Zeit mit einem Aufenthalt in einer Klinik in der französischen Schweiz. (1975 – 1977)

In der Zeit fingen die Beschwerden an sich zu häufen. D.h. ich hatte Probleme Patienten zu heben, mir fielen Gegenstände aus den Händen, beim Essen verschluckte ich mich oft, die Speisen und auch Getränke „kamen mir aus der Nase“. Manchmal verstand man mich nicht gut. Ich hatte oft Rückenschmerzen. Was man einer schlechten Körperhaltung zusprach. Einen Muskeltest wurde auf Veranlassung des Chefarztes gemacht und diesen bestand ich laut der Physiotherapeutin nicht. Aber ich sei halt nicht so kräftig wurde mir gesagt. Ich solle ein Aufbautraining machen.

In der Zwischenzeit erzählte meine Grossmutter dies unserem langjährigen Hausarzt. Bei einem Besuch bei ihm erklärte er mir: „Rahel, wenn ich dich nicht besser kennen würde, käme mir der Verdacht Du würdest ein bisschen „spinnen“. Aber ich habe eine Cousine, die hatte dasselbe und die leidet an einer Muskelkrankheit. Ich schicke dich zur Abklärung in die Neurologische Klinik, Inselspital, Bern“. Und wirklich, leider hatte er vollkommen recht mit seiner Diagnose einer MG. (1977)

Ich wurde sofort thymektomiert (damals üblich bei allen jungen MG-Patienten). Ich wurde noch schwanger und verlor das Kind im 5. Monat. Damals wurde mir nahegelegt, keine Kinder mehr zu haben.

Meinem Berufswunsch konnte ich auch begraben. Ich entschied mich zur Lehre als Arzthelferin. Dies schien mir eine geeignete Alternative. Doch es ging mir immer schlechter. Ich konnte kaum mehr gehen, Treppensteigen war mir unmöglich, ich konnte fast nichts mehr in den Händen halten. Man kann sich kaum vorstellen, was so ein leeres Glas wiegen kann, wenn man keine Kraft hat. Ich konnte nur noch pürierte Mahlzeiten zu mir nehmen, bin stark abgemagert. Ich wurde dann notfallmässig ins Spital eingeliefert, wo ich für die nächsten drei Monate blieb. In der Zeit war ich fast immer im Rollstuhl.

Ich war sehr schlecht einzustellen, die Aerzte verzweifelten fast. Sie stellten mich mit Cortison, Imurek, Mestinon und Prostigmin ein. Ich war damit in der Lage, meine Lehre zu beenden. (mehr schlecht als recht)

Und dann hatte ich das grosse Glück (1980) meinen langjährigen Chef kennenzulernen. Er suchte eine Arzthelferin und war trotz meiner Krankheit bereit mich einzustellen. Wir haben zusammen 18 Jahre meine MG ertragen.

Stationen der MG:

* 1977 Diagnose MG
* 1977 Thymektomie
* 1979 Schub/3 Monate Spital, meistens im Rollstuhl
* 1980 Mestinon 860 mg, 50 mg Prostigmin, 150 mg Imurek, Cortison 35/45 mg alternierend
* 1985 stopp Imurek, stopp Cortison
* 1986 erneuter Schub, wegen Cortisonunverträglichkeit nur erneut Imurek
* 1992 erneuter Schub, Hospitalisation 14-tägl. Plasmapherese (Blutwäsche) (für 1 Jahr)
* 1993 Wegen Plasmapherese Eiweissmangel, Blutungsneigung, Blutbildveränderungen   –> Einstellung mit Immunglobulin alle 8 – 10 Wochen, immer noch gleiche Dosis Mestinon, Prostigmin, Imurek
* 1998 Hypothyreose (Unterfunktion der Schilddrüse)

Alles in allem hatte ich mit der MG turbulente, nun fast 24 Jahre. Ich für meinen Teil weiss, ich habe es auch geschafft, weil ich eigentlich immer gute, kompetente Aerzte hatte, einer davon begleitet mich nun auch schon die ganzen 24 Jahre. Ich habe mich für den Weg der Schulmedizin entschieden und bin damit gut gefahren.

Ich sage damit aber nicht, alternative Methoden und Wege zu suchen sei falsch. Sicher nicht!!

Ich finde es gut, das es da auch Möglichkeiten gibt, der MG beizukommen. Aber ich habe nun mal diesen Weg gewählt und stehe dazu. Ich für meinen Teil bin auch bereit alles dafür zu tun, damit ich meine für mich wichtige Lebensqualität erhalten kann inkl. meiner Arbeit als Arzthelferin, die ich sehr liebe.

Für mich ist die Dosis des Mestinons kein Gradmesser für die Schwere der MG, sondern für mich ist Mestinon ein Hilfsmittel für meine Lebensqualität. Ich habe erst vor drei Jahren mein Arbeitspensum von 100 % auf 50 % reduziert. Klar, heute muss ich sagen, ich möchte nicht zurück. Ich geniesse die Reduktion. Ich habe mehr Zeit für mich, meine Hobbies, meinen Ehemann und unseren Hund. Damals war es mir aber wichtig. Ich habe mich trotz meiner „Behinderung“ als vollwertig gefühlt. Aber ich bin älter und „weiser“ geworden und brauche diese Bestätigung nicht mehr. Lustigerweise brauche ich aber immer noch die gleiche Dosis Mestinon etc. Mein Körper braucht sie anscheinend immer noch.

Nun, ich habe gelernt, die MG als ständige Begleiterin bei mir zu haben. Sie macht sich oft bemerkbar, aber ich sehe sie nicht mehr als Bedrohung. Ich glaube, sie hat mir trotz all den schweren Jahren einen besseren Weg aufgezeigt, als ich ihn mir für mich ausgesucht hätte.

Ich hätte nicht gedacht, das es mir so schwer fallen würde, diesen Bericht zu verfassen. Wisst Ihr, vieles habe ich vergessen, ist plötzlich nicht mehr so wichtig. Anderes ist noch so präsent, als wenn es gestern gewesen sei.

Manches fehlt in dem Bericht, wie z.B. meine immer noch bestehenden Probleme mit der Mimik, dem Sprechen, Doppelbilder etc. Gut, auch ich verstecke oft den Mund hinter der Hand, lache nicht gern mit fremden Leuten, esse lieber zuhause. Auch ich habe den Ruf, ich sei arrogant (fehlende Mimik, Mundwinkel nach unten). Auch ich kann oftmals den Leuten nicht in die Augen schauen, weil ich gerade Mühe mit den Augen habe.

In all dem darf und will ich nicht vergessen: Es war ein langer und schwieriger Weg. Auch ich habe lange gebraucht, bis ich in der MG keine Feindin sondern eine Begleiterin gefunden habe. Manchmal ist es eben auch bequem zu sagen, man habe eine Muskelkrankheit und könne dies und das nicht. Und geht es Mal nicht so gut, ist man schnell bereit zu sagen, das ist wegen der MG. Und ein anderes Mal sucht man Gründe, warum gerade ich? Was ist der Grund für die MG? Habe ich was falsch gemacht? Haben andere was falsch gemacht?

Nach meiner Meinung stimmt das alles nicht. Im Gegenteil, man hat einfach Pech oder auch Glück gehabt mit der Diagnose einer MG. Krebs? Nein! Gelähmt für immer? Nein! Arm oder Bein weg? Nein! Und dann haben wir in der heutigen Zeit viel mehr Möglichkeiten der MG beizukommen. Schulmedizin und auch Alternative Medizin. Mir wurde von einem meiner Aerzte gesagt, ohne Mestinon wäre ich mit der Schwere meiner MG gestorben. Also, ich hatte Glück.

Nun, vielleicht habe ich Euch mit meinem Erfahrungsbericht überfordert? Gelangweilt? Ich weiss nicht. Aber vielleicht gibt er auch die Anregung zur Akzeptanz der MG.